Post-Pisa in Bremen
Frankfurter Rundschau, 2004
Pisa an der Weser
Pisa I platzierte Deutschland auf einem skandalösen 21. Platz – und den Stadtstaat Bremen weit abgeschlagen auf dem allerletzten Platz der Bundesländer. Drei Jahre später ist man dort immer noch mit der Ursachenforschung beschäftigt. Und hat längst nicht alle Fragen beanwortet.
Wenn man so da sitzt und Heike Gruben beobachtet, fragt man sich, was eigentlich das Erstaunlichste an ihr ist. Dass sie erst 31 ist und mit ihrer knallblonden Kurzhaarfrisur in jedem Lehrerzimmer den gefühlten wie tatsächlichen Altersdurchschnitt senkt? Dass von den 23 Kindern im Raum nur zwei zuhause deutsch sprechen? Dass sie Erst- und Zweitklässler gemeinsam unterrichtet, die einen also lesen können, die anderen nicht? Oder dass es der jungen Lehrerin tatsächlich gelingt, im Flüsterton zu unterrichten.
Wenn sie etwas sagen will, wartet sie einfach, bis die Kinder ruhig sind, notfalls ein paar Minuten. „Hört mal her, ist nicht schwer“, wispert sie dann. Und alle halten sich die Hände an die Ohren. Vielleicht ist das Erstaunlichste an der 31-Jährigen aber, dass sie einen Unterricht macht, der alle mitnimmt in die Welt des Lesens und Lernens. Und das in einer Trabantenstadt der 70er-Jahre, die man getrost als eine der gescheitertsten der Republik bezeichnen darf. Die steht dann auch noch in jener Stadt, von der man in den vergangenen Jahren den Eindruck bekommen konnte, dass vernünftiger Unterricht dort gar nicht angeboten werde: in Bremen.
Lange hatte man sich in der Hansestadt auf seine sozialdemokratische Bildungspolitik ebensoviel eingebildet wie auf die Stadterneuerung. Letztere hat Wohnsilos wie das Mitte der 70er-Jahre von der gewerkschaftseigenen Neuen Heimat erbaute Osterholz-Tenever erschaffen. Als urbanes Modellprojekt erdacht, verkam es zu einem Ort der Massenflucht, an dem nur Leute bleiben, die bleiben müssen; vor allem Sozialhilfeempfänger und mittellose Zuwanderer. Nun wird jede dritte Wohnung abgerissen; und wer hierher kommt, entdeckt die Grundschule am Pfälzer Weg als wohltuende Insel fröhlicher Lebendigkeit inmitten der Tristesse.
Mit der Bremer Bildungspolitik, von der einst das ganze Land lernen sollte, sieht es nicht besser aus. Erst Pisa, dann Iglu waren ein Schlag ins Gesicht der Reformer von damals: Nicht nur, dass sowohl 15-Jährige als auch Viertklässler ihren Altersgenossen in Baden-Württemberg und Bayern statistisch ein Jahr hinterherhinken. Auch von sozialdemokratischen Bildungsidealen ist man meilenweit entfernt. In kaum einem Bundesland wird stärker nach Herkunft selektiert als in Bremen; in manchem Viertel des gut situierten Schwachhausen besucht kein einziger Schüler die Hauptschule, dafür zwei von drei das Gymnasium. Wechselt man die Weserseite in die alten Arbeiterkieze, ist die Lage umgekehrt. In kaum einem anderen Land werden so viele Kinder von oben nach unten durchgereicht, müssen die Schulform wechseln oder die Klasse wiederholen. Nur in Schleswig-Holstein bleiben mehr Kinder sitzen. Weitere Superlative: In Bremen unterrichten die ältesten Lehrer (Durchschnitt 51,6 Jahre) die benachteiligsten Schüler. Fast jeder fünfte lebt von Sozialhilfe, mehr als jeder dritte stammt aus einer ausländischen Familie. Letzteres zogen auch die Pisa-Forscher als Teil der Erklärung heran: die schwierigen Verhältnisse in der Hansestadt, attestierte der deutsche Pisa-Leiter Jürgen Baumert, blieben nicht ohne Folgen. Bei der Präsentation des Iglu-Ländervergleichs schwor sein Hamburger Kollege Wilfried Bos allerdings, selbst wenn man die sozialen Unterschiede „herausrechne“, hinke Bremen rettungslos hinterher.
In Bremen ist man mit Ursachenforschung beschäftigt. Bildungssenator Willi Lemke (SPD), der nach Iglu betreten von einem „äußerst deprimierenden Ergebnis“ sprach, schickte zwecks genauer Beobachtung zwanzig Experten in Zweiergruppen in 27 Grundschulen. Nun liegen die Ergebnisse vor – und weisen daraufhin, dass wohl doch nicht vor allem die Schüler schuld sind. Die Praktiker um den ehemaligen Salem-Reformpädagogen Otto Seydel fanden Schulen wie die am Pfälzer Weg, in denen engagierte Lehrer trotz widriger Bedingungen hervorragende Arbeit leisten. Und eine Menge Schulen in allen möglichen Gegenden, denen sie ein trauriges Zeugnis ausstellten: Insgesamt mangele es weder an Geld noch an Ausstattung. Sondern an etwas, was sie „gemeinsames pädagogisches Ethos„ nennen. Immer noch würde im Kollegium zuwenig kommuniziert; vor allem nicht darüber, wie man Schüler individuell fördert. Das Resultat, so Seydel: „Die einen werden über-, die anderen unterfordert.“ Zu schlechter Letzt attestierten die Experten einen „fatalen Teufelskreis wechselseitiger Schuldzuweisungen“ zwischen Lehrern und Behörde sowie ein enormes Misstrauen. Zu demselben Schluss kam vor Jahren für den Sekundarbereich bereits Jochen Schweitzer, der in Bremen den Ablauf von Pisa koordinierte: „Nirgends ist das Verhältnis von Schulen und Behörden so gestört wie hier.“
Maresi Lassek ist stellvertretende Leiterin der Schule am Pfälzer Weg. Und auch sie sagt, dass das Verhältnis nicht von Vertrauen getragen sei. Statt Beratung und Begleitung kämen von dort nur ständig wechselnde Anordnungen und Erlasse, Stundenstreichungen, bestenfalls halbherzige Ansätze und nicht selten gleich ein neues Schulgesetz. Generationen von Schülern wären ohne Lehrpläne unterrichtet worden: „Die waren immer irgendwie in Arbeit.“
Wer das Büro der Lehrergewerkschaft GEW besucht, bekommt den Eindruck, hier habe man sich nach Jahrzehnten eines gestörten Verhältnisses von einem konstruktiven Dialog verabschiedet. Angesichts der Arbeitsbedingungen sei individualisierter Unterricht gar nicht möglich, erklärt der Landesvorsitzende Jürgen Burger. Die Klassen seien zu groß, die Kollegen müssten zu viele Stunden unterrichten – „da ist jede Verbesserung Zukunftsmusik“. Wer etwas ändern wolle, müsse zunächst „ganz viel Geld in die Hand nehmen!„ Dann sagt er noch, dass die Grundschulexperten viel Richtiges festgestellt, aber viel Falsches gefordert hätten: Jede Konsequenz, die auf Mehrarbeit hinauslaufe, sei indiskutabel. Die Bremer Lehrer scheinen hinter Burger zu stehen: Mit 50 Prozent verzeichnet die GEW hier einen sensationell hohen Organisationsgrad.
Dabei war in Bremen einst eine ganze Brigade engagierter Junglehrer in die sozialdemokratische Bildungsreform gestartet. Reihenweise verließen sie in den 70er-Jahren die junge Universität, an der es zwar häufig keine Noten, aber viel Idealismus gab. Sie starteten ihre Laufbahn in einem Schulsystem, das soeben rundum erneuert worden war. Auf die vierjährige Grundschule folgte eine zweijährige Orientierungsstufe (OS). Danach wurden die Schüler in ein dreigliedriges System unter einem Dach verteilt: die so genannten Schulzentren versammelten Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten ohne sie gemeinsam zu unterrichten. Für diese „horizontale Gliederung“, die ein Schritt zur Integration sein sollte, verzichtete man auf Schulen, an denen Schüler bleiben konnten: wer das Gymnasium besuchte, musste nach der Sekundarstufe I auf eine separate Oberstufe. Auch die – im Bundesvergleich wenigen – Gesamtschulen machten nach der zehnten Klasse Schluss.
Dass man den Schülern damit eine Menge zumutete, wusste man schon zu Zeiten, als man noch glaubte, ihnen so wenigstens gleiche Chancen zu verschaffen. Die mussten sich nach der Grundschule an einer neuen Schule mit neuen Lehrern und häufig auch mit neuen Mitschülern arrangieren, um das gleiche zwei Jahre später noch einmal zu tun. Und, im Falle der Gymnasiasten, vier Jahre später noch mal. Heute weiß man, dass die systemimmanenten Probleme viel weiter gingen: Die Grundschullehrer waren von den Empfehlungen – und damit auch von der Verantwortung dafür, wie diese ausfallen&
nbsp;– befreit; die OS-Lehrer empfanden zwei Jahre als zu kurz, um mit den Schülern effektiv zu arbeiten. Und an den Schulzentren wurden soziale Unterschiede zementiert statt verwischt. Schon 1994 fand eine Kommission heraus, dass das Verhältnis von Bildungsaufsteigern zu -absteigern dort 20:1 betrug. Auf zwanzig Schüler, die Gymnasium oder Realschule verlassen mussten, kam einer, der den Sprung nach oben schaffte.
Das Zeugnis bekam die Bremer Bildungsszene mit Pisa und Iglu in die Hand gedrückt. Konnten nach Pisa wenigstens die Verfechter der klassischen Dreigliederung noch triumphieren und alle Schuld den pseudointegrativen Schulzentren zuschieben, wissen auch sie heute: Das Problem liegt tiefer. Seit 1999 ist mit Willi Lemke einer im Amt, der nicht in der berüchtigten Behörden-Maschinerie groß geworden ist. Schon allein dafür, dass er sich von jeder einzelnen Schule ein persönliches Bild gemacht hat, gebührt ihm nach Ansicht vieler Respekt. Überregional hat Lemke zwar vor allem mit populistischen Forderungen wie der nach Benimm-Unterricht oder Schuluniformen von sich reden gemacht, vor Ort hat er aber auch manches angestoßen: Mehr Deutsch, mehr Mathe, mehr Sprachunterricht, Schulinspektionen. Und er hat in dem notorisch unterfinanzierten Stadtstaat zusätzliche 24 Millionen Euro lockergemacht.
Und schon immer war Lemke zur Stelle, wo etwas geleistet wird. Das Prinzip der Orientierung an „Best Practice“- Beispielen soll nun in ganz Bremen greifen: Schulen wie die am Pfälzer Weg sollen Besuch bekommen von denen, bei denen es nicht so läuft. Damit auch in Bremen eines Tages vielleich nicht mehr gilt: Nirgends hat man so viel Integration gewollt – und so wenig bekommen.