Neukölln: Elternarbeit
Süddeutsche Zeitung, 2007
Mit den Eltern zum Erfolg
Schulen mit vielen Kindern aus Migrantenfamilien brauchen Moderatoren, die sprachlich und kulturell vermitteln können.
Es gab Zeiten, da war Younes Kheir vor allem gastronomisch engagiert. Er betrieb einen libanesischen Imbiss, mit dem er sich auskannte; sein Sohn besuchte eine deutsche Schule, mit der Kheir sich nicht auskannte. Irgendwann beschloss er, einen Blick in die Schule seines Kindes zu werfen. Und er stellte fest: Es gab viel zu tun. Deutsche Lehrer unterrichteten dort Schüler aus Familien, mit denen sie nicht oder nur unter Inkaufnahme größter Missverständnisse sprechen konnten. „Selbst wenn Schule und Eltern sich trafen, redeten sie immer aneinander vorbei“, erinnert er sich, „niemand verstand wirklich, was der andere wollte.“
Kheir wurde ein „engagierter Vater“, wie er sagt, und wurde mit offenen Armen empfangen. Erst wählten ihn die Eltern zu ihrem Vertreter, dann bat die Schulleiterin ihn, bei Gesprächen mit arabischstämmigen Eltern zu übersetzen. Schnell lernte der Vater, wie verschieden die beiden Seiten tickten. Schon bald vermittelte er nicht mehr nur sprachlich, sondern auch inhaltlich: Wenn eine Kopftuch tragende Mutter sich von einer Lehrerin nicht ernst genommen fühlte, ein palästinensischer Vater glaubte, sein Volk sei beleidigt worden. Oder wenn Eltern im Ramadan plötzlich forderten, in der Fastenzeit sollten keine Klassenarbeiten geschrieben werden.
Seit dem Kollaps der Berliner Rütli-Schule ist Elternarbeit als Erfolgsstrategie auf dem Weg zu einer besseren und vor allem konfliktfreieren Schule in aller Munde. Modelle gibt es einige – von Kursen, in denen Mütter parallel zu ihren Kindern Sprachunterricht bekommen, über regelmäßige Elternbriefe bis hin zu regelrechten Verträgen zwischen den „Erziehungspartnern“ Eltern und Schule. Die Philosophie hinter all diesen Initiativen ist: Wem es gelingt, die Eltern zu gewinnen und sie dann noch in den Stand versetzt, die Bildung ihrer Kinder zu begleiten, der hat viel erreicht. Die Franz-Schubert-Grundschule in Berlin-Neukölln ist ein besonders schönes Beispiel dafür. Keine 300 Meter von der Rütli-Schule entfernt, hat sie es nicht nur geschafft, die Eltern zu erreichen, sondern auch zur aktiven Mitarbeit zu bewegen. Auch die Schubert-Grundschule wird von Kindern besucht, die im ärmsten Viertel Berlins aufwachsen und in deren Elternhäusern ein fester Arbeitsplatz meist ein Fremdwort ist. Viele Schüler hier stammen aus arabischen Flüchtlingsfamilien und haben nicht einmal einen gesicherten Aufenthaltsstatus – ein Zustand, der die Konzentration auf Hausaufgaben und Nacharbeiten nicht gerade einfacher macht. Insgesamt sind 85 Prozent nichtdeutscher Herkunft.
Dafür, dass es hier friedlicher zugeht als in der Rütlistraße, gibt es eine Menge Gründe: Grundschüler sind noch nicht in der Pubertät, haben in aller Regel Spaß am Lernen und fühlen sich zudem noch nicht als Hauptschüler abgewertet. Dennoch ist sich die Schulleiterin Ulrike Banach sicher: „Wäre es uns nicht gelungen, die Eltern ins Boot zu holen, dann hätten auch wir es schwerer.“
Den Kontakt aufgenommen hat man hier schon, als noch kein Mensch über unregierbare Schulen sprach: Im Jahr 1994 eröffnete mit dem Club „Arche“ ein Ort, der Schülern und Eltern offen stehen sollte. In dem Café im Erdgeschoss der Schule stand der Psychologe Wolfgang Höfert mit Rat und Tat parat – und bemerkte schnell, dass er es alleine nicht schaffte. „Als deutscher Mann kam ich vor allem an die Mütter nicht ran“, erinnert er sich. Er warb für die Einstellung einer türkischen Kollegin und die Schulleitung stimmte zu. „Wer Migranten ansprechen will, muss sie unbedingt einbeziehen” sagt Ulrike Banach, „sonst funktioniert das nicht.“
Wolfgang Höfert und die Sozialpädagogin Fatma Bektas sind ein ideales Team mit einer idealen Arbeitsteilung geworden. Heute zum Beispiel sieht die so aus: Er moderiert den wöchentlichen Treff mit den Klassensprechern und fragt nach Problemen im Unterricht; sie bereitet den monatlichen Elternabend in türkischer Sprache vor. Thema wird der Schwimmunterricht sein – und insbesondere die Frage, ob die Religion es Mädchen verbietet, gemeinsam mit ihren Mitschülern baden zu gehen.
Wie jeder Lehrer, der islamische Schüler unterrichtet, kennt auch Bektas den Verweis auf „den Islam“ für diese oder jene Nichtteilnahme aus dem Eff-eff. Anders als viele Lehrer versteht sie aber auch die Beweggründe der Eltern – und vermag so auch, einfühlsamer zu argumentieren. Gerade gestern noch glückte es ihr, in einem seit Wochen schwelenden Konflikt zu vermitteln: zwischen den Eltern eines Jungen, der sich weigerte im Sexualkunde-Unterricht die Abbildung einer nackten Frau anzugucken und der Lehrerin. Am Ende siegte die Schulpflicht. Der Junge wird am Unterricht teilnehmen, auch gegen den Willen des Imams.
Sind die Eltern vielleicht religiös verblendet, weil sie einem Imam mehr Glauben schenken als einem Lehrer? Oder nutzen sie jede Möglichkeit, ihre Kinder von der Schule zu befreien, weil Bildung für sie ohnehin keinen Wert darstellt? Fatma Bektas widerspricht: „Konflikte entstehen in aller Regel nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Unwissenheit. Natürlich ist eine türkische Mutter genau so bemüht um das Wohlergehen ihres Kindes wie eine deutsche.“ Die häufig gehörte These, bildungsferne Eltern interessierten sich nun mal nicht für Bildung, weist auch der Kreuzberger Schulpsychologe Ali Ucar entschieden zurück. „Ausländische Eltern haben meist ein sehr großes Interesse daran, dass ihre Kinder gut ausgebildet werden – schon allein, damit die es mal besser haben als sie selbst“, sagt Ucar, der über den schulischen Erfolg von Kindern nichtdeutscher Herkunft auch wissenschaftlich geforscht hat. Der Schulpsychologe mit Professorentitel fordert die Schaffung eines ganz neuen Berufsbildes an deutschen Schulen: den „Kulturdolmetscher“, also einen Menschen, der nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell vermitteln und moderierend eingreifen kann. Auch wenn das nicht ihre offizielle Berufsbezeichnung ist: Fatma Bektas ist eine solche Dolmetscherin, Younes Kheir ebenso. Aus dem engagierten Vater ist ein Experte geworden, der für das bezahlt wird, was er tut: im Rahmen eines Projekts, das „Interkulturelle Moderation“ heißt und aus Mitteln des Quartiersmanagements getragen wird. Eine Ausnahme? Ja. Aber eine, die Schule machen könnte.