»Gewalt ist Macht«
Das Parlament, 2007
»Gewalt vermittelt das Gefühl von Macht«
Vor fünf Jahren wird Marinus Schöberl brutal ermordet. Nach Theaterstück und Film hat Andres Veiel das Buch über Täter und Opfer publiziert.
Am 12. Juli 2002 wird der 16-jährige Marinus Schöberl im brandenburgischen Potzlow von zwei Brüdern und einem Dritten über Stunden gequält. Am Ende bringen die 17- und 23-Jährigen ihn zu einem Schweinestall. Marinus muss in einen Trog beißen, dann ermordet ihn einer der Brüder per „Bordsteinkick“: Er springt mit Stiefeln auf seinen Kopf. Die Täter vergraben ihr Opfer in einer Jauchegrube. Der Mord bleibt über Monate unentdeckt. Der Filmemacher Andres Veiel reiste mit der Dramaturgin Gesine Schmidt immer wieder nach Potzlow und sprach mit allen, die reden wollen.
Über 40 mal haben Sie Potzlow besucht. Wie nah sind Sie den Ursachen dieser auf den ersten Blick unfassbaren Tat gekommen?
Eine eindimensionale Erklärung habe ich natürlich nicht. Stattdessen habe ich mir einen Weg durch ein Gestrüpp von Einflussfaktoren gebahnt, an dessen Ende sich durchaus einige Stränge erkennen lassen, die mitentscheidend waren: Dazu gehört das Verhältnis der beiden Brüder Marcel und Marco Schönfeld ebenso wie die Vorlage aus dem Film „American History X“, die Marcel mit dem „Bordsteinkick“ auslebt. Die Familiengeschichte der Täter spielt eine Rolle; ebenso die Geschichte des Dorfes. Und die Rolle des Opfers im Dorf. Wenn der Bürgermeister sagt, dass Marinus einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war, stimmt das nicht. Es hätte nicht jeden anderen getroffen.
Was machte den Jungen, von dem die Öffentlichkeit nur erfuhr, dass er eine Hiphopper-Hose trug und Förderschüler war, zum Opfer?
Erstens kam Marinus aus einer zugezogenen Familie und gehörte schon deswegen nicht richtig dazu. Den Schöberls wurde eine Art „zigeunerhaftes“ Leben unterstellt; als Familie mit sieben Kindern nannten manche sie auch die „Kelly Family“. Der Pfarrer hat es so formuliert: Die Schöberls seien die „neuen Juden“ Potzlows gewesen. Dazu kommt, dass Täter und Opfer sich in vielem ähnlich waren. Auch die Täter haben Ausgrenzungserfahrungen gemacht. Auch sie haben Sprachprobleme, zwei von ihnen waren ebenfalls auf der Förderschule. Die Tat erklärt sich auch aus dieser Nähe.
Was macht das Rechtsextreme an dem Mord aus? Die Jugendlichen kennen sich lange, kommen alle aus derselben Szene. Marco ist zwar als Rechter bekannt, sein jüngerer Bruder hat aber auch eine Phase als HipHopper hinter sich.
Es gibt deutlich rechtsextreme Chiffren: Eine ist, dass Marinus in der Tatnacht nicht dem Männlichkeitsideal entspricht. Er hält einem Wetttrinken nicht stand und muss sich vor den Augen der anderen übergeben. Zweitens ist er Hiphopper und hat seine Haare gefärbt – was dazu führt, dass die anderen ihm vorwerfen, er tarne, dass er Jude sei. Im Verlauf der Quälerei gesteht Marinus dann etwas, was er nicht ist – nämlich Jude – und verstärkt die Aggressionen damit noch. Juden sind für die Täter keine Menschen. Fragt man sie nach ihrem Bild von Juden, entspricht ihre Antwort dem Abbild von Karikaturen aus der NS-Zeitschrift „Stürmer“. Bei keinem der drei gibt es eine ausgefeilte Ideologie – aber klare rechtsextreme Versatzstücke, die als Katalysator dienen.
Potzlow erfüllt keins der gängigen Klischees: Es ist kein verödetes und von Abwanderung betroffenes Dorf. Die Menschen haben für ostdeutsche Verhältnisse häufig Arbeit, vor zehn Jahren wurde es zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt. Noch mehr Klischees sind nicht haltbar: Auch die Eltern der Brüder sind weder arbeitslos noch haben sie ihre Kinder missbraucht oder geschlagen. Was der Familie fehlte, war eher Zeit. Durch die viele Arbeit war der Vater jahrelang kaum zuhause. Man darf sich Potzlow aber auch nicht als heile Welt vorstellen: Wir sind auf extreme Kommunikationslöcher getroffen; auf eine absolute Unfähigkeit, darauf zu reagieren, dass Zwölfjährige betrunken durchs Dorf laufen und ein sehr altersungemäßes Leben am Rande der Verwahrlosung führen.
Wo liegen die Ursachen dafür?
Für diesen Zustand gibt es eine Reihe Ursachen, unter denen es eine allerdings nicht überall so gibt: In den 90er-Jahren kaufte ein westdeutscher Investor nahezu das ganze Dorf auf und spielte die Bewohner geschickt gegeneinander aus. Immer noch machen Gerüchte die Runde, etwa dass er die ehemaligen Leiter der LPG bestochen hat. Viele Dorfbewohner wollten sich bei dem Verkauf nicht mit Minimalerlösen abspeisen lassen. Die, die ihre Anteile nicht verkaufen wollten, fühlten sich unter Druck gesetzt, manche sogar bedroht. Darüber wurde nie offen gesprochen, im Dorf hat sich Misstrauen und Hass breit gemacht. Diese Wut konnte jedoch nicht an denen ausgelassen werden, denen sie galt. Stattdessen traf es die, die neu ins Dorf kamen: die Familie des Opfers und teilweise auch die Familie der Täter. Die Brutalität, die sich beispielsweise auch gegenüber einem der späteren Täter entwickelte, kann man in ihrer Intensität und Monstrosität so deuten. Mit dieser Interpretation möchte ich aber nicht aus den späteren Tätern nur Opfer der Verhältnisse machen.
Die Tatnacht endet mit einer Schlüsselszene aus dem Film „American History X“: Marinus wird gezwungen in die Kante eines Trogs zu beißen – dann springt Marcel mit voller Wucht auf seinen Hinterkopf. Welche Rolle spielt der Film?
Dass er „nachgespielt“ wird, geschieht spontan und ist dennoch sehr entscheidend: Marcel kennt den Film, Marco nicht. Der Jüngere weiß also endlich einmal mehr, kann Regieanweisungen geben. Das erzeugt ein Gefühl von Überlegenheit, das er zuvor nie hatte und er lebt es bis zum Exzess aus – mit tödlichen Folgen.
Die Tat hat ohnehin sehr viel mit der Dynamik zwischen den beiden Brüdern zu tun: dem älteren aggressiveren und dem jüngeren, immer unterlegenen, der seinen Bruder erst seit wenigen Wochen wieder um sich hat. Marco war nur wenige Wochen zuvor aus dem Knast entlassen worden. Ans Licht der Öffentlichkeit kommt der Mord erst als Marcel damit prahlt und seine Kumpels zu der Jauchegrube führt. Zu dem Zeitpunkt war der Junge fast fünf Monate verschwunden – obwohl es Zeugen gab. Wie kann so etwas passieren?
Die Frage war auch für mich ein wesentlicher Grund, die Recherche zu beginnen. In der Tat hat ein Pärchen einen Teil der Quälereien mitbekommen – weil sie in ihrer Wohnung stattfanden. Die drei Täter sind quasi bei ihnen eingebrochen und haben Marinus gequält, bevor sie ihn zu dem Schweinestall brachten. Keiner der beiden hat sich im Anschluss bei der Polizei oder anderswo gemeldet. Beide wurden später wegen unterlassener Hilfeleistung zu acht Monaten Haft verurteilt. Als Ansatz einer Erklärung mag dienen, dass sie enorme Angst hatten. Drei Jahre zuvor hatte Marco auch sie schon einmal zusammengeschlagen und mit Zeltstangen bearbeitet. Vermutlich waren sie zunächst geradezu erleichtert, dass es dieses Mal nicht sie trifft.
Bildete auch der Rest des Dorfes ein Schweigekartell?
Den Verdacht fand ich so nicht bestätigt. In der Tatnacht hat außer den Erwähnten sicher niemand etwas mitbekommen. Und unter sich haben die Bewohner durchaus diskutiert, wo Marinus ist; es wurden Nachbarn und auch die Eltern von Marco und Marcel danach gefragt. Dass man sich nicht an die Polizei wandte – die ja wusste, dass Marinus verschwunden ist und ihn suchte, wenn auch etwas halbherzig –, hat einen anderen Grund: Das Vertrauen in die staatliche Gewalt ist nahezu auf dem Nullpunkt. Für mich war es eine frappierende Erkenntnis zu erleben, in einer welch großer Krise die staatliche Autorität dort ist.
Woran liegt das?
Das hat viele Gründe. Zum e
inen ist es Polizei und Justiz in den neuen Ländern offenbar immer noch nicht geglückt, wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen. Nach dem massiven Austausch von Personal nach der Wende passierte nach Taten immer wieder viel zu spät etwas und häufig gar nichts. Die Leute dachten: „Früher kam man in den Knast – heute kommen alle davon.“ Natürlich ist Knast nicht immer die richtige Antwort – aber wenn man sich die Geschichte von Marco mit einer ganzen Serie von Körperverletzungen anschaut, stellt sich doch die Frage, wie er jahrelang auf freiem Fuß bleiben konnte. Das mangelnde Vertrauen zieht sich durch alle Bereiche und trifft zum Beispiel auch die Lehrer; in Teilen auch Eltern. Viele empfinden den Staat als etwas Verlogenes und wollen daran nicht mitwirken. Sie sagen: „Auf der einen Seite ist Ellbogenmentalität gefragt; auf der anderen Mitmenschlichkeit gefordert. Das passt doch nicht zusammen.“ Wo vielleicht einmal – wenn auch oft geheucheltes – Vertrauen in einen anderen Staat war, trifft man häufig nur auf ein Vakuum.
Sowohl im Film „Black Box BRD“, der die Lebenswege des ermordeten Deutsche Bank-Chefs Alfred Herrhausen und des RAF-Terroristen Wolfgang Grams gegenüber stellt, als auch in „Der Kick“ widmen Sie sich den Opfern und den Tätern. Sehen Sie Parallelen?
Solche Vergleiche sind natürlich gewagt. Dennoch glaube ich, dass es Parallelen gibt – auch zu der Geschichte von Andreas Baader, der ich mich zurzeit widme: Es gilt das Prinzip des Wettbewerbs. Ob zu Beginn der RAF-Zeit, als Andreas Baader und Dieter Kunzelmann konkurrierten und schließlich Baader auch deshalb den bewaffneten Kampf aufnahm, um sich von Kunzelmann abzusetzen, oder in Potzlow: Es ist nicht zuletzt Konkurrenz, die Täter hochschaukelt. Der Wille, besser zu sein, weiter zu gehen als andere. Es gibt viele Gründe, die zum Tod von Marinus Schöberl führten – Gruppendynamik ist einer davon. Ein anderer ist, dass Gewalt das Gefühl von Macht vermittelt: Der Täter fühlt sich als Erhabener – und als einer, der genau jetzt die Chance hat, sich selbst ein Denkmal zu setzen.
Das Interview führte Jeannette Goddar
Andres Veiel: Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, 285 Seiten, 14.95 €
ZUR PERSON: Geboren 1959 in Stuttgart, studierte Andres Veiel Psychologie. Noch vor seinem Studienabschluss 1988 absolvierte er eine Regie- und Dramaturgieausbildung. Mehrfach ausgezeichnet wurde er für seine Dokumentarfilme „Balagan“ (1993), „Die Überlebenden“ (1996), „Black Box BRD“ (2001) und „Die Spielwütigen“ (2004). 2005 erhielt er den Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste. Seinen Film „Der Kick“ stellte er 2006 auf der Berlinale vor. Die „Evangelische Filmarbeit“ wählte ihn zum Film des Jahres.